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R-E-S-P-E-C-T!

8 Mär

„All I’m asking is for a little respect (just a little bit)!“

Ich habe in der nahen Vergangenheit zwei Situationen erlebt, die mich tief berührt und sehr traurig gemacht haben. Darüber möchte ich schreiben. Es geht um fehlenden Respekt.

Situation 1: Wir wollen ins Kino und gehen über den Alexanderplatz. Wir haben noch Zeit, also blieben wir stehen, um einem wirklich guten Straßenmusiker zuzuhören, der unter der Brücke spielt. Unter dieser Brücke liegt auch ein Obdachloser. Er ist, erkenntlich, sehr sehr betrunken und lehnt an einer Säule. Vermutlich hat er im Laufe der Woche ein paar Karnevalisten getroffen, denn sein (nicht ganz frischgewaschenes) Haar ist bedeckt mit buntem Konfetti. Er liegt da und faselt vor sich hin, unverständlich und unzusammenhängend. Manchmal glaubt man, er wünscht sich bestimmte Songs von dem Musiker, solche, die ihm etwas bedeuten. Irgendwie muss jedem, der ihn sieht, klar sein, dass es sich um einen Menschen handelt, der jeden Bezug zum Leben verloren hat. Und irgendwie ist einem auch klar, dass hinter diesem Menschen ein schreckliches Schicksal steht. Kein Mensch, der nicht Schlimmes erlebt hat, endet so: Besoffen und vollgekotzt unter einer Brücke am Alex, mit all seinem Hab und Gut in einer Aldi-Tüte!
Irgendwann versucht er, sich aufzurappeln. Aufgrund des massiven Alkoholisierungsgrades gestaltet sich dies als ein schwieriges Unterfangen und man fühlt sich an einen riesigen betrunkenen Käfer erinnert, der zappelnd auf dem Rücken liegt und nach seinem Gleichgewicht sucht. Ich denke: „Warum hilft ihm denn keiner?“ (Ich gebe zu, ich habe ihm auch nicht geholfen, so weit ging meine Nächstenliebe auch nicht, aber im Grunde habe ich gedacht: Ich hätte gerne! Ich hätte gerne mich selbst und meinen gewissen Ekel ob der hygienischen Gegebenheiten überwunden, um dieser vom Leben gezeichneten Kreatur auf die Beine zu helfen!) Irgendwie war es so metaphorisch: Ein gefallener Mensch, der es nicht mehr schafft, alleine wieder aufzustehen, und der so tief gefallen ist, dass die Gesellschaft unfähig ist, ihm aufzuhelfen!) Da ich ja ein Mensch bin, der gelegentlich von seinen Emotionen überwältigt wird, bin ich den Tränen nahe! Ich habe das Gefühl, in diesem Moment die ganze Einsamkeit dieses Menschen zu spüren und bin trotzdem unfähig, zu helfen.
Plötzlich fängt neben mir eine Gruppe von jungen Männern Mitte 20, die das Geschehen beobachten, laut an, zu lachen. Sie stoßen sich an und grölen. Äffen ihn nach. Machen ihm das Aufstehen noch schwerer, indem sie ihn schubsen! Und ich merke, dass der Obdachlose das merkt! So betrunken er auch ist, er spürt, dass sie sich über ihn lustig machen. Er will weg, will raus aus dieser Situation, raus aus dem höhnischen Gelächter. Aber er schafft es nicht, schafft es einfach nicht, aufzustehen und wegzulaufen!
Ich beobachte das. Ich höre es. Aber ich sage nichts. Bin sprachlos.

Situation 2: Ich fahre in der U1 von der Arbeit nach Hause. Neben mir sitzt ein geistig behinderter Junge. Offensichtlich, denn sein Gesicht ist ungewöhnlich, irgendwie alles etwas verschoben, der Mund steht offen und er schielt. Er ist vielleicht acht Jahre alt. Und er ist total aufgeregt. Er schaut sich um, freut sich, lacht jeden an und man merkt, dass er das Bahnfahren genießt. Ich bin irgendwie gerührt von soviel Begeisterung für die Welt!
Am Gleisdreieck steigen drei pubertierende Mädchen ein, die noch während des Einsteigens durch lautes Gekicher und Geschrei auffallen. Sie setzen sich uns gegenüber. Der kleine Junge strahlt sie sofort an. Die eine entdeckt ihn, stößt der zweiten in die Seite und zeigt auf den kleinen Jungen: „Ey, guck mal!“ Die zweite beginnt, laut zu kichern und stößt die dritte an. „ÄH!“ schreit die,und zieht eine Grimasse, „Der ist ja eklig! Kann der weggucken?“ und so geht das die nächsten fünf Stationen weiter. Der kleine Junge wird merklich ruhiger. Er lacht nicht mehr. Er guckt nur noch fragend auf die Mädchen, mit großen Augen und offensichtlich völlig verständnislos, was denn da gerade passiert. Ich kann es ihm nicht verübeln: Genau das frage ich mich nämlich auch! Es zerreißt mir das Herz! Der kleine Junge steigt aus. Die Mädchen gackern ihm hinterher. Er zieht die Schultern hoch und versucht, sich hinter seinem riesigen Tornister zu verstecken. Seine Augen sind ganz, ganz leer.

Ich habe Wut! Einfach nur Wut im Bauch! Und Tränen in den Augen! Aber mehr, als die Mädchen giftig anstarren, tue ich auch nicht! Ich sage nichts. Und schäme mich wieder dafür. Und den ganzen Heimweg über frage ich mich: Wo ist meine Zivilcourage geblieben?
Aber noch mehr frage ich mich: Wo ist der Respekt der Menschen füreinander geblieben?
Was hält uns an, Menschen wegen ihrer Andersartigkeit auszulachen? Sie derart unwürdig zu behandeln? Wenn ich eins verinnerlicht habe, dann ist das, dass alle Menschen gleich sind. Und das nicht nur vor dem Gesetz, sondern vor und gegenüber jedem! Ob das „Andere“, was diesen Menschen ausmacht, nun etwas ist, was den Menschen seit seiner Geburt von der sogenannten „Normalität“ unterscheidet, oder etwas, das das Leben aus ihm gemacht hat: es macht keinen Unterschied! Jeder Mensch hat einen Anspruch auf Respekt!

In diesem Sinne hoffe ich, dass irgendjemand nächstes Mal dem Obdachlosen unter der Brücke am Alexanderplatz die Hand reicht und ihm auf den Weg hilft.
Ich hoffe, dass irgendjemand den kleinen Jungen bei der nächsten Fahrt in der U 1 in den Arm nimmt und ihm sagt: „Du bist wunderschön!“
Und ich hoffe, dass genau dieser „irgendjemand“ irgendwann vielleicht ich bin. Dieser irgendjemand, der jemandem, der das gerade ganz nötig braucht, den offenen Respekt zollt, den er verdient.

Generation Sparkasse

12 Nov

Als ich aus dem Bus steige, ist es 21:09 Uhr.

Es ist schon dunkel.

Und nichts los in Sennestadt.

Ich bin extra eine Haltestelle eher ausgestiegen, um noch Kontoauszüge zu holen.

Der Sparkassen-Vorraum ist hell beleuchtet. Schon von außen sehe ich durch das Fenster auf der rechten Seite einige Jugendliche. Solche „Ich-hab-vielleicht-Angst-vor-denen“-Jugendliche.

„Ok,“ denke ich mir so bei mir, „aber die sind auf der rechten Seite.“ (der Sparkassen-Vorraum ist quasi zweigeteilt, rechts sind zwar grundsätzlich die Kontoauszugdrucker, aber links gibt es auch einen, neben den Geldautomaten). „Gehste einfach nach links, schnell Ausdrucke holen, und dann weg! Wird schon nichts passieren. Außerdem, Madame, bist du groß, immerhin 30 Jahre alt, das schaffen die nur zu zweit, und du kannst Jura, und die nicht (was auch immer dir das in einer solchen Situation bringen soll, aber immer mal wieder gut, das innerlich zu erwähnen!) und außerdem: Augen zu und durch, was soll dir schon passieren!“

Unter Beachtung des Grundprinzips des selbstbewussten Auftritts („Brustrausbauchrein) baue ich also meinen Hunderteinundsiebzigzentimetergroßvierundfünfzigkiloschwer- Körper auf und stapfe forschen Schrittes auf die Tür zu. Sie schiebt sich auf, ich schiebe mich rein, mein Kopf sagt: „Was soll dir schon passieren? Es ist 9 Uhr, die Sparkasse hell beleuchtet, du bist nicht die Einzige auf der Straße und die, vor denen du Angst hast, sind Kinder“, mein Bauch sagt: „Es könnte sein, dass du gleich stirbst! Es ist dunkel draußen, du bist in Sennestadt, es interessiert keinen, was in einer hell beleuchteten Sparkasse vor sich geht und es sind ca. 7 „Kinder“! Und wenn, dann stirbst du für 125,38 €. Mehr können die von deinem Giro-Konto nämlich nicht holen. DU übrigens auch nicht!“ (Dieser Gedanke baute mich übrigens auf: Die Vorstellung, abgemetzelt vor dem Geldautomaten zu liegen und die Täter stellen fest, dass das Konto… naja… sagen wir mal, nicht so richtig viel her gibt.)

Ich betrete also diesen Vorraum, husche, wie ein Schatten, in den Westflügel zum Kontoauszugdrucker- und rechts neben mir, auf einem Tisch, sitzt einer von denen und guckt mich ebenso überrascht und verwirrt an, wie ich ihn.

„Hey.“ sage ich. (Was sagt man auch sonst in einer solchen Situation).

„Hi.“ sagt er.

Er ist schätzungsweise 16, trägt sein Käppie ein bisschen zu hoch, nach meinen konservativen Vorstellungen dafür die Jeans ein bisschen zu tief, nach „Die-Hose-sollte-schon-irgendwie-das-Gesäß-bedecken“-Maßstäben.

Plötzlich nehme ich hinter mir einen Schatten wahr.

Ich drehe mich ruckartig um.

Hinter mir stehen auch noch zwei vo n denen, im Schatten einer Säule. Sie sehen aus, als täten sie da irgendwas Illegales. Mit Drogen.

Ich drehe mich also im Kreis. Gucke nach rechts, zu dem auf dem Tisch sitzenden Käppieträger, wieder nach hinten, auf die zwei Irgendwastueneden, wieder auf den Kontoauszugdrucker… Das Ganze etwa 5 mal.

Dann frage ich den Aufdemtischsitzer: „Stör ich?!? Was Illegales“

Er.“Nö.“

Ich: „Party?!?“

Er:“ Ja, genau, Geburtstag…“ (Lacht) „Wir wärmen uns nur auf!“

Ich: (hole meine Kontoauszüge): „Ist ja auch nett hier, in der Sparkasse.“

Er: (grinst): „Ne!?! Willste auch!?!“ und rückt auf seinem Tisch beiseite.

Ich (irritiert, aber auch belustigt): „Äh, nee, muss noch in den REWE. Beim nächsten Mal, versprochen. Ich bring Bier mit!“

Gehe.

Und lache.

Und dann denke ich nach. Darüber, dass die Umgangsformen dieser Herren astrein waren. Dass sie höflich und freundlich zu mir waren.Dass es keinen Grund dafür gab, Angst vor ihnen zu haben. Außer, dass sie scheiße aussahen.

Aber, ich finde, das Recht hat man in diesem Alter. Ich glaube, auch meine Eltern hatten damals den dringlichen Wunsch, mich wieder in meinen Kinder-Kord-Hosenanzug Größe 148 zu packen, als ich meinte, mit Buffalos meinen Lebensweg beschreiten zu müssen. Als ich mir die Oberlippe piercen ließ-

Auch wir waren damals nicht immer so cool, wie wir uns fanden.

Wir waren genauso (a)sozial, wie die, die jetzt durch ihre Kopfbedeckung 30 cm größer scheinen. Mit 30 cm zu kurzen Beinen. Wegen der Hosen.

Und sahen auch nicht immer so ästhetisch ansprechend aus! Jede Generation hat ihre Trends. Ihr Pubertätsgehabe. Aber jede Generation hat auch die Menschen, die trotzdem eigentlich, trotz ihrer Coolness, gute Menschen sind. Und offen sind für „die Alten“. Zu denen ich mich mittlerweile zählen muss

Ich jedenfalls bin ganz gerührt.

Plädiere für mehr Verständnis. Denn auch wir wollten verstanden und respektiert werden, oder?

Ich werde nächsten Montag einen Träger Bier mitbringen. Und mir erklären lassen, warum die Jungs immer unkoordiniert auf die Straße rotzen müssen.

Als Gegenleistung erwarte ich Verständnis, wenn ich mich um 22 Uhr verabschieden muss.

Weil ich noch meine Steuererklärung zu erledigen habe.

Die Ruhe vor dem Sturm

9 Okt

Seit kurzem sammele ich kaputte technische Geräte.
Und das nicht etwa, weil ich den Messie in mir entdecke.
Mit einem „Kaputte-Gebrauchtgeräte-Shop“ ein zweites Standbein aufbauen will.
Oder daraus „Kunst“ machen will.

Vielmehr höre ich in der letzten Zeit immer häufiger den Satz: „Oh je, wenn mein Vater demnächst in den Ruhestand geht, das wird eine Katastrophe- ich weiß gar nicht, was er dann macht…“
Und, obwohl es auch viele Mütter meiner Bekannten gibt, die berufstätig sind, habe ich diesen Satz auf „Mütter“ bezogen noch nie gehört.

Eine Freundin meiner Mutter sagte kürzlich: „Ja, ich weiß ja auch außerhalb der Arbeit etwas mit mir anzufangen. Aber mein Mann glaubt, das Leben besteht aus den zwei Themenbereichen „Arbeiten“ und „Fernsehen“.“

Und tatsächlich scheint es so zu sein, dass viele Männer sich stärker über ihren Job identifizieren, als Frauen. Und ohne Job ein viel größeres Problem mit der Definition ihrer Persönlichkeit haben.

Ist das die Folge gesellschaftlicher Normen? Haben die Männer das „Versorgergen“ dermaßen internalisiert, das heutzutage nicht mehr durch das Jagen des größten Tieres, das Anlegen des größten Fleischvorrat, den Besitz der schönsten Felle, sondern durch ein gutes Jahresbruttoeinkommen und eine verantwortungsvolle berufliche Position unter Beweis gestellt wird?

Während meines Referendariats traf ich an einer Arbeitsstelle regelmäßig auf einen älteren „Kollegen“, der allmorgendlich eifrig durchs Haus eilte und sehr beschäftigt wirkte.
Auf Nachfrage bei anderen Kollegen, wer das denn genau sei und was er konkret mache, wurde mir erklärt, er sei eigentlich gar kein Kollege mehr. Er sei vielmehr zwei Monate vor meinem Arbeitsantritt in den Ruhestand gegangen.
Da er aber vorher eine Führungsposition innegehabt hätte, könne er sich nicht wirklich vorstellen, dass der Laden ohne ihn liefe, weswegen er nach wie vor seine 40-60 Stunden- Woche dort absolvierte.
„Er kann halt nicht ohne Arbeit!“ meinten die Kollegen augenzwinkernd, und ertrugen ihn mit wohlwollender Fassung.

Als ich ihn also das nächste Mal traf und fragte: „Herr X, was machen Sie denn schon wieder hier? Gönnen Sie sich doch mal ihre verdiente Ruhe und genießen Sie ihre Zeit mit ihrer Frau!“, sagte er: „DIE hat mir ja nahegelegt, mal das Haus zu verlassen!“
Ich musste grinsen, weil ich das noch von meiner Oma kannte.
Als mein Opa in den Ruhestand ging, hatte er so ziemlich alles, außer innerer Ruhe.
So stand er Nacht für Nacht auf und entwickelte neue, innovative Ideen, wie man Haus und Garten neu gestalten könnte.
Es wurden, via technischer Zeichnung festgehalten, Wände entfernt, Geschosse aufgestockt, Räume unterkellert, Dachformen geändert etc und diese Änderungen im allmorgendlichen „jour fixe“ (Frühstück) via Flipchart dargestellt.
Nachdem meine Oma in der dritten Woche infolge mit hartnäckiger Überzeugungsarbeit „ihr“ Haus retten musste, schickte sie ihn auf den Golfplatz.

Mit einem Augenzwinkern erzählte ich Herrn X also diese Episode, und schlug ihm auch vor, Golf zu spielen.
„Ja,“ meinte er, „das hab ich ja vorhin schon gemacht. Und außer dem Pool im Garten hat mir meine Frau keine weiteren Änderungen erlaubt, ich wollte ja eigentlich noch eine Dachterrasse für sie entwerfen! Und als ich ihr Radio in der Küche reparieren wollte, sagte sie: „Lieber nicht- jetzt funktioniert es ja wenigstens noch ein bisschen!““ Er klingt nahezu empört.
Ich verkneife mir ein Grinsen, sage ihm, er müsse da ja aber auch seine Frau mal verstehen und frage dann: „Und? Was haben Sie heute noch so vor?“
„Ich wollte mich über weiterführende Schulen für meinen Enkel informieren.“ sagt er, und wedelt mit ein paar Prospekten.
Auf Nachfrage, wie alt sein Enkel denn sei, antwortet er mir ernsthaft mit „Fünf“.
Als ich (mit zugegebenermaßen sehr subtiler Ironie) darauf hinweise, im Stern sei diese Woche auch ein Uni-Ranking gewesen, falls er denn schon wisse, in welche Richtung das Studium seines Enkelsohns gehen solle, fragt er doch tatsächlich (und ich fürchte, ohne selbige subtile Ironie) sehr interessiert nach: „So? In welcher Zeitung, sagen Sie, ist das?“
Ich verabschiede mich kopfschüttelnd.
Vielleicht war meine Ironie tatsächlich nur im Subtext mitschwingend und nicht eindeutig verständlich.

Irgendwie kann ich es ja verstehen.
Nichtstun ist bei weitem nicht so toll, wie es erstmal klingt.
Freizeit kann erdrücken. Das weiß ich aus eigener Erfahrung.
Und vielleicht führt das bei Männern häufig dazu, dass sie die Decke, die ihnen auf den Kopf zu fallen droht, lieber durch eine Dachterrasse ersetzen und sich buchstäblich von einengenden Wänden befreien.
Indem sie die fehlende eigene Struktur durch die Strukturierung der Leben anderer, ihnen nahestehender Menschen, ersetzen.
Sich gebraucht fühlen, wenn sie in der „Männerdomäne“ Technik dazu beitragen, dass irgendwas irgendwie wieder läuft.
Und sei es nur ein Radio.

Seitdem suche ich nach kaputten technischen Geräten.
Weckern. Radios. CD-Playern.
Ich habe mir nämlich überlegt, vorsorglich eine Sammlung anzulegen.

Lieber Papa, lieber Schwiegerpapa in spe, ich tue das für euch! Damit ihr euch gebraucht fühlt- später, wenn es soweit ist.

Naja. Ein bisschen tue ich das auch für mich.
Weil ich keine Lust habe, dass mein Haus irgendwann dem „Änderhaus“ aus der Unendlichen Geschichte gleicht und ich morgens nach dem Aufwachen auf dem Weg zur Dusche feststellen muss, dass sich das Badezimmer nun in einem zweiten Stock befindet, den es am Vorabend noch nicht gab.
Und die Dusche, die bislang nervtötend tröpfelte, nun gar kein Wasser mehr ausschüttet.

Liebe Mama, liebe Schwiegermama in spe: Auch für euch tue ich das!
Ich denke nämlich, ihr wünscht euch keinen Freizeitpark im Garten.
Oder einen Fußballplatz.

Und, liebste ungeborene Kinder, vor allem tue ich das für euch.
Damit ihr in Ruhe nach der 9. Klasse die Schule abbrechen und freischaffende Künstler werden könnt.
Oder Kioskbesitzer.
Wenn euch das glücklich macht.

Bewerbungs-Freestyle

1 Okt

„Duhu…?!?“ sage ich.
„Jahaaaa?!?“ fragt er (Böses ahnend).
„Ich hab da ja diese Bewerbung, ne?!?“
„Jahaaaaa!!!!“ sagt er (noch Böseres ahnend).
„Und das ist ja alles nicht so schön, wie ich das so gemacht habe!“ ergänze ich, und versuche, dabei eine süße Grimasse zu ziehen, so eine, bei der man(n) dahinschmilzt und nicht anders kann, als mir zu helfen.
Scheint gelungen zu sein.
„Was hast du denn da genau?“ fragt er.
„Ja, diesen Lebenslauf halt. Und der müsste noch mal schön gemacht werden, also, inhaltlich hab ich das ja…“

Und das habe ich auch.
Tabellarisch aufgelistet jede einzelne meiner bisherige Tätigkeiten; es sind derer viele.
In Word.
WORD!!!
Das kann ein Wirtschaftsmathematiker und IT-Profi natürlich nicht verantworten.
Dass seine Freundin einen Lebenslauf in WORD abgibt.
Die Falle schnappt zu!
Das Ding wird überarbeitet!

„Wir machen dir das mal ein bisschen professioneller, als pdf!“ sagt er.
„Gut!“ sage ich, die dieses Internet auch noch mit dem Internet Explorer besucht (und habe keine Ahnung, was dieses pdf-Ding genau bedeutet). „Mach mal, wie du meinst, du kannst das sicher besser als ich!“
Er: „So, wie ich meine? Ohne, dass du bei jeder zweiten Änderung sagst: Ja, aber…?!?“
Ich: „Klar!!! Aber zeig mir, wie das genau geht, ich will das ja auch lernen!“
Neugierig schaue ich über die Schulter. In der Kopfzeile erscheint: Curriculum Vitae.
„Äh!“ sage ich.
Er: „Was?!?“
Ich: „Warum schreibst du das so?“
Er: „Klingt gut!“
Ich: „Nee. Klingt scheiße!“
Er: „Hast du mir nicht eben versprochen, nicht bei jeder zweiten Änderung…“
Ich: „Ist auch die erste Änderung. Und außerdem wusste ich auch nicht, dass du meinen „Lebenslauf“ „Curriculum Vitäääää“ nennst. Das ist mindestens Wegfall der Geschäftsgrundlage!“
Er: „Gerade ihr Juristen habt es doch so mit Latein!“
Ich: „Ja, aber ich bewerbe mich auf eine Stelle, die für eine Sozialwissenschaftlerin ausgeschrieben ist. Und außerdem hast du doch vorher gesagt, die Bewerbung soll nach MIR klingen.“
Seufzend ändert er die Kopfzeile wieder in „Lebenslauf“.
Ich nicke zufrieden.

Bei den persönlichen Daten erhebe ich keinerlei Protest.
Bei den bisherigen Tätigkeiten frage ich nach, ob man Aushilfe an der Käsetheke (1998-2001) nicht netter formulieren kann.
„Cheese Manager“ oder wenigstens „Käsethekenfachangestellte“.

Irgendwann kommen wir bei den Interessen an.
„Was soll denn da hin?“ fragt er.
„Ja, weißte doch, kennst mich doch!“ antworte ich.
„…außer Telefonieren und Shopping!“ sagt er.
Ich: „Achsojaklarhm!“
Er (schreibt) „Reisen“:
Ich: „Äh?!`“
Er „Ja- nicht?!?“
Ich: „Najaaa…“
Und denke daran, dass es mich regelmäßig in riesigen Stress versetzt, meine eigenen 4 Wände zu verlassen.
Fahren wir ein Wochenende nach Berlin, habe ich
a) 2 Koffer und 1 Reisetasche plus diverse Stoffbeutel dabei, weil ich ja nicht weiß, was wir so machen werden (möglicherweise fahren wir ja Kanu auf der Spree oder werden spontan auf einen Opernball eingeladen), wie das Wetter so wird (auch im Juli sollen die Temperaturen in Deutschland ja manchmal unter 0 fallen, weswegen es einer Skihose und Schneestiefeln bedarf, vorsorglich!)
b) leide ich im Auto bis mindestens Magdeburg unter akuter Panik, Herd, Glätteisen oder Kaffeemaschine könnten meine Wohnung in Brand setzen
c) habe ich die permanente Sorge, mich nicht verständigen zu können („Wir fahren nach Berlin, nicht nach Tokio!“ „Ja, aber die sagen zu Brötchen ja auch „Schrippen“…“)

Allerdings, klar, Urlaub generell finde ich eher gut.
Also bleibt „Reisen“ stehen.

„Tanzen!“ ergänze ich.
Er guckt mich irritiert an. „Tanzen???!!!???“
Ich: „Ja, klar! Ich hab Orientalischen Bauchtanz bei der VHS gemacht. Drei Kurse! Und Flamenco. Und Freien Tanz für Körper, Geist und Seele!“
ER: „Ja, aber du KANNST das doch nicht.
Ich (kleinlaut) „Aber mein Discofox war nach der Schützenfestsaison gar nicht soooo schlecht!“
Er: „Du hast da gemacht, was du willst, und dich nicht führen lassen!“
Ich: „Ich bin halt Mia Wallace!“
Wir lachen, und lassen „Tanzen“ weg.
Er (schreibt): „Singen.“
Ich: „?!?!?Merkste selbst?!?!?“
(Ich singe gerne, zugegebenermaßen. Und bei Singstar, so ab dem zweiten Glas Sekt, bin ich dann auch der festen Überzeugung, es zu KÖNNEN).
Wir ändern „Singen“ in Musik. Immerhin spiele ich ja Querflöte. Gar nicht ganz so schlecht.

Nachdem ich mich habe überzeugen lassen, dass „Kindergeschichten schreiben“ einen zukünftigen Arbeitgeber möglicherweise nicht überzeugen wird, mich für juristische oder sozialwissenschaftliche Tätigkeiten einzustellen und wir das ganze unter den Oberbegriff „Literatur“ subsumiert haben (ich schreibe und lese ja auch sonst alles, was sich so anbietet, und bin immerhin stolze Eigentümerin einer Bibliothek mit ca 2000 Büchern), schließen wir die Kategorie „Hobbies“ und damit auch die Bewerbung ab.

Ich bin zufrieden.
Alles in allem ist mein Curriculum Vitae ja gar nicht so uninteressant. Auch ohne Kindergeschichten.
Und es ist eine pdf-Datei.

Und wenn ich es zu einem persönlichen Gespräch schaffen sollte, kann ich ja dort auch immer noch meine Freestyle-Discofox-Choreo vortanzen.
Sofern es sinnvoll erscheint.

Weiblich, ledig, jung, sucht (nicht)…

14 Sept

„Willst du einen Freund? Dann melde dich bei uns an und finde den richtigen Mann, unkompliziert und kostenlos!“

Dieser Werbebanner begrüßte mich gerade bei Facebook.

Nein. Ich möchte keinen Freund, zufälligerweise habe ich nämlich einen. Den Einen. Den Besten.

Aber natürlich gab es auch einmal Zeiten, da hatte ich keinen.
Und zahlreiche wundervolle Single-Frauen in meinem Umfeld haben keinen und wollen bestimmt auch einen.

Vielleicht sollte ich sie mal darauf hinweisen, dass das ganz einfach ist, mit dem Freund: Unkompliziert und kostenlos! Männerflat!Mit Garantie zum Verlieben. Oder?

Ich oute mich hiermit.
In Zeiten, in denen ich keinen Freund hatte, aber gerne ganz unkompliziert und kostenlos einen gehabt hätte, meldete auch ich mich bei einer entsprechenden Single-Plattform an.
6 Wochen habe ich durchgehalten.
Kostenlos war es, durchaus.
Aber unkompliziert?

Ich meldete mich also damals an.
Legte mir einen Benutzernamen zu, gab mein Geburtsdatum (selbstverständlich mit Zahlendreher in Tag und Monat und einem kleinen Toleranzabzug von 1 Jahr im Geburtsjahr) sowie meinen Wohnort (natürlich nicht Bielefeld, sondern eine andere Stadt im nahen Umfeld) an, ferner, dass ich interessiert an einer „festen Beziehung“ sei.

Noch während ich darüber nachdachte, ob ich denn nun im Folgenden ein Foto hochladen solle, wurde ich angechattet:
„Hallo, ich bin Thomas und dein Profil klingt sehr interessant, du bist genau mein Typ, ich würde dich gerne kennenlernen!“
„Ok,“ dachte ich, „mein Profil offenbart ihm bislang mein (ein klein bisschen korrigiertes) Geburtsdatum und meinen (angeblichen) Wohnort, wenn das schon so interessant ist, dann will ich nicht wissen, was hier abgeht, wenn ich als Hobby „Serviettentechnik“ angebe, vermutlich hagelt es dann sofort Heiratsanträge…“
Noch neu auf dieser Plattform antwortete ich höflich nach Begutachtung seines Profils (die nächsten 453 Male, die in der Folgezeit Chatanfragen mit nahezu identischem Text kamen, habe ich dann auch irgendwann ignoriert…) „Hallo Thomas, vielen Dank für deine nette Anfrage, allerdings suche ich einen Mann, der maximal 50 ist. Leider teile ich ebenfalls nicht deine Tierliebe. Ich wünsche dir aber viel Erfolg bei der weiteren Suche!“

Meine nächste Amtshandlung auf meinem Profil war dann eine Eingrenzung des Alters meines Traummannes sowie der Kommentar „Fotos von Männern mit Tierbabys auf dem Arm als Avatar“ in der Kategorie „Das sollte mein Traummann auf keinen Fall haben“.

In dieser Kategorie ergänzte ich am Folgetag, nachdem ich mittlerweile auch ein Foto hochgeladen hatte, auf dem erkennbar war, dass ich blond und blauäugig bin und keine 120 Kilo wiege) außerdem noch: „Fotos mit nacktem Oberkörper auf ihrem Avatar“ sowie „Fotos mit prolligen Autos auf dem Avatar“, nachdem mich in der Masse der Nachrichten selbige von Justin, 21, „hey süße ich find dich total sexi wolen wir mal tel oder so schik mir doh mal deine priv handynr“ (Antwort: „Lieber Justin, sofern du ernsthaftes Interesse an einer Deutsch-Nachhilfe hast, darfst du dich gerne wieder bei mir melden!“) sowie die von Christian, 38, „Wunderhübsche junge Dame, dürfte ich Sie zum Shopping auf der Kö einladen? Anreise und Shoppingerlebnis sowie ein anschließendes Dinner werden selbstverständlich von mir bezahlt!“ (Antwort: „Werter Herr, vielen Dank für das freundliche Angebot, leider muss ich dankend ablehnen, da ich mein eigenes Geld verdiene und mir sowohl meine Textilgüter als auch die notwendigen Nahrungsmittel selbst finanzieren kann!“)

Ich erspare euch den wörtlichen Rest.

Aber ich wurde eingeladen zu Dates mit Rentnern, bekam Angebote, meinen Körper für sehr viel Geld zu verkaufen, Angebote, den Körper eines Mannes für sehr viel Geld zu kaufen, wurde von ein und demselben Mann quasi minütlich angeschrieben und nach meiner, wie ich finde, sehr netten Antwort auf seine 143. Nachricht: „Hey, warum schreibst du mir nicht zurück, bin ich dir nicht gut genug?“ “ Lieber Heinz, vielen Dank für dein Interesse an meiner Person, leider glaube ich nach Ansicht deines Profils nicht, dass wir so gut zusammen passen, ich wünsche dir aber viel Erfolg bei deiner weiteren Suche nach einer geeigneten Lebenspartnerin“ aufs übelste beleidigt, bekam tatsächlich Heiratsanträge, aber auch wirklich sehr nette Nachrichten von sehr interessanten Herren, mit denen ich mich im wirklichen Leben zu damaliger Zeit möglicherweise gerne mal auf einen Kaffee getroffen hätte.

Aber es war dort immer diese Barriere des „Partnerportals“.
Ich konnte nie glauben, dass das, was mir auf dem Profil preisgegeben wurde, auch tatsächlich der Realität entspricht.
Ich meine, sogar ein grundehrlicher Mensch, wie ich es bin, hat ja geschummelt, zumindest mit der Angabe des Geburtsjahres „1983“.

Und irgendwie war da auch immer die Angst, man könne nach einem solchen Date möglicherweise tatsächlich seinen Lebenabend teilweise in einer Mülltonne in der Arndtstraße verbringen.
Und teilweise im Teutoburger Wald.
Und diese Vorstellung einzelner Teile von mir verstreut in unterschiedlichen Stadtteilen Bielefelds hat mich schließlich auch bewogen, das mit dem Daten mal lieber zu lassen.

Wobei, ich gebe zu: einmal habe ich mich getraut und mit einem sehr netten Banker einen Kaffee getrunken.
Er war wirklich sehr nett.
Und es hätte der Beginn einer wunderbaren Freundschaft sein können.
Wenn ich nicht schon einen gut funktionierenden und völlig zufriedenstellenden Freundeskreis hätte.
Und zu mehr reichte es halt einfach nicht, das merkte ich bereits auf den ersten Blick.

Letztlich glaube ich: Die Wahrscheinlichkeit, jemanden kennenzulernen, in den man sich wirklich verliebt, ist nicht kleiner, aber auch nicht größer, als im wirklichen Leben.
Die Gefahr, „falsche“ oder „gefährliche“ Menschen kennenzulernen, ebensowenig.
Aber diese Singlebörsen-Hemmschwelle besteht. Und ist einfach nicht wegzuchatten.

Unkompliziert? Mitnichten.
Kostenlos? Ja.
Aber das ist das Kennenlernen in realiter ja nunmal auch.

Wobei ich eigentlich nichts sagen darf.
Meinen Freund habe ich über Twitter kennengelernt.
Allerdings bat er mich neulich, das doch nicht immer zu betonen.
Er meinte: „Schatz, wenn du schon sagen musst, dass wir uns im Internet kennengelernt haben, könntest du dann nicht wenigstens sagen, über „Facebook“? Das klingt nicht ganz so nerdy wie „Twitter“!“

Fazit: Die Liebe geht ihren eigenen Weg. Manchmal überwindet sie auch Internet-Hemmschwellen.

Und: Twitter ist schließlich auch keine Singlebörse.

Und mein Freund saß auf seinem Avatar auch nicht mit nacktem Oberkörper und einem Babykaninchen in einem R8.
So.
Ich finde, das normalisiert das Ganze.

Liebesgeschichten (mit Blumen)

5 Sept

Eigentlich wollte ich nur kurz ein paar Lilien für meine Bodenvase im Flur kaufen.
Ich stand also im Blumenladen an der Kasse (irgendwie beginnen meine Blogeinträge meistens damit, dass ich an der Kasse stehe, vielleicht rechne ich demnächst mal aus, wieviel meiner Lebenszeit ich an Kassen verbringe!) und wartete darauf, dass die Floristin der Dame vor mir ihr Biedermeiersträußchen einpackte, als mir ein älterer Herr von hinten auf die Schulter tippte: „Entschuldigung, junge Dame, ich drängele mich ja nur ungern vor, aber meine Frau kommt gleich von ihrem Arzttermin wieder, und ich würde sie gerne in Empfang nehmen, deswegen habe ich es etwas eilig, würde es sie also stören, mich vorzulassen?“

Der Herr war weit über 80, nicht mehr ganz sicher auf den Beinen, und hielt in der Hand einen Bund gelber Rosen.
Ich hatte es nicht eilig, antwortete also mit ja.
Im Folgenden berichtete er mir: „Wissen Sie, wir haben heute 63. Kennenlerntag. Heute vor 63 Jahren trafen wir uns das erste Mal, ich schenke ihr seitdem jedes Jahr an diesem Tag gelbe Rosen!“

Spätestens zu diesem Zeitpunkt hätte ich ihn in der Reihe vorgelassen, notgedrungen, weil ich mich sowieso hätte hinter einem Busch Chrysanthemen verstecken müssen, um unauffällig ein Rührungstränchen wegzuwischen.

Und das nicht nur, weil es mich an meine Großeltern erinnert hat.

1944 in der Nähe von Frankfurt.
Jahresball im Vereinsheim.
Die Schwester meiner Großmutter wollte dort tanzen, mit ihrem Freund.
Meine Großmutter nicht. Sie war Single und sah keinerlei Veranlassung, zu diesem Ball zu gehen.
Dummerweise sollte sie als Anstandsdame fungieren.
Ihre Schwester hatte schon mehrfach versucht, sie zu verkuppeln, so auch dieses Mal.
„Mein Freund hat einen ganz netten Arbeitskollegen, den Leo. Der wäre was für dich!“
„Leo?!?“ Meine Oma war schon immer sehr direkt. „Ich glaube kaum, dass ein Mann mit einem derart bescheuerten Namen jemand für mich sein könnte!“
Schließlich ging sie mit. Weil ihre Schwester ansonsten nicht die elterliche Erlaubnis bekommen hätte.

Zeitgleich redete der Freund der Schwester meiner Oma auf seinen Kollegen ein: „Leo, du musst mitkommen! Elfriede darf nicht zum Ball, wenn ihre Schwester nicht mitkommt! Und die braucht einen Begleiter!“
„Aber ich muss doch arbeiten!“ sagte mein Opa (er verdiente sich derzeit nach der normalen Arbeit noch etwas Geld mit Schnapsbrennerei dazu.)
„Dann kommst du halt später!“ antwortete Walter, „und bring am besten gleich ein bisschen Schnaps mit!“

Der Tag des Balls.
Mein Großvater war ein Mann, der wusste, was sich gehörte.
Auch wenn er wenig begeistert war, nach Feierabend noch zu einem Ball gehen zu müssen, um der Begleiter einer ihm unbekannten „Lydia“ zu sein („Ist sie denn wenigstens hübsch?“), gab er Walter einen Strauß weißer Rosen mit, mit der Bitte, sie meiner Oma im Vorfeld zu übergeben, um zu entschuldigen, dass er erst später käme.

Walter überreichte die Rosen. Allerdings an seine eigene Freundin, die Schwester meiner Oma, die sehr entzückt war, dass ihr ansonsten doch eher sparsamer Freund eine solche Investition gewagt hatte.

Dann saß meine Oma am hintersten Tisch des Raumes, mit Blickrichtung zur Tür. Bei jedem Herrn im Anzug, der den Raum betrat, flüsterte Elfriede aufgeregt: „Das ist bestimmt Leo!“
Gelegentlich schnupperte sie auch verzückt an „ihrem“ Rosenstrauß).
Aber ein Mann nach dem anderen ging vorbei.

Nach einer Stunde war meine Oma völlig genervt und sagte: „Ich geh gleich nach Hause, und euren Leo könnt ihr euch sonstwohin stecken!“, als die Tür aufging, und ein großer, schlanker und überdurchschnittlich attraktiver Mann den Raum betrat, auf den sich alle Blicke richteten.
„DAS ist Leo!“ jubelte Elfriede zufrieden.
„Klar!“ sagte meine Oma, „genauso, wie die letzten 15 Männer, die diesen Raum betreten haben, auch!“, stand auf, und wollte ihren Mantel holen.
Aber der Mann kam auf den Tisch zu, blieb vor ihr stehen und sagte: „Guten Abend, Sie müssen Lydia sein! Entschuldigen Sie vielmals die Verspätung! Meine Blumen sollten Sie aber schon erhalten haben? Ich habe weiße Rosen gewählt- aber vielleicht werden sie im Laufe der Zeit ja noch rot?“
Da sprang meine Oma mit einem Aufschrei auf ihre Schwester zu, riss ihr die Rosen aus der Hand und schrie: „Gib her! Das sind meine!!!“

Danach haben sie den ganzen Abend getanzt und geredet.
Mein Opa fand Lydia hübsch.
Und lief jeden Tag nach der Arbeit 15 Kilometer zu Fuß in den Heimatort meiner Oma, um sie zu besuchen.
Und meine Oma fand plötzlich, dass Leo doch gar nicht ein ganz so bescheuerter Name ist.

Die Rosen sind rot geworden.
Und 57 Jahre lang rot geblieben. Dann starb mein Großvater.

Sie hatten gute und schlechte Zeiten, es sind sicherlich auch viele harte Worte gefallen, sie hatten mit schlimmen Schicksalsschlägen zu kämpfen, aber nie haben sie die Liebe und den Respekt voreinander verloren.
In 57 Ehejahren konnte man an 10 Fingern die Nächte abzählen, die sie getrennt voneinander verbrachten.
Und jedes Jahr, am Kennenlerntag, bekam meine Oma einen Strauß weißer Rosen.

Und mein Opa sagte regelmäßig zu mir: „Deine Oma ist das Beste, was mir passieren konnte!“
Und meine Oma sagte: „Dein Opa war vom ersten Moment an meine ganz große Liebe!“

Und ich gebe es an dieser Stelle zu: Nicht zuletzt wegen dieser großen Liebe, die mein Leben lang vor meinen Augen gelebt wurde und die für mich für mich einerseits etwas Selbstverständliches, andererseits doch Besonderes war (das habe ich irgendwie bereits als kleines Kind gespürt), glaube ich an die „große Liebe“.

Und ich glaube auch, dass viele heutzutage zu wenig daran glauben.
Sich binden? Nur unter Vorbehalt!
Geiz ist geil!
Im Grunde logisch: Wenn man, von Anfang an, in Erwägung zieht, eine Beziehung bald wieder aufzugeben, ist es zu teuer, zuviel zu investieren.
Einweg-Beziehungen: mindere Qualität, für kurze Zeit ausreichend, nicht sonderlich stressresistent, aber praktisch. Nicht alleine sein und keinen allzuhohen Preis für die Zweisamkeit zahlen- das Modell vieler Verbindungen.

Das H&M-Prinzip: Man weiß, dass das Top, das man kauft, nicht so schön ist, wie das im Nachbarladen, aber es kostet nur 5,99 €. Man weiß auch, dass es nach 3 Waschgängen total verfusselt ist, an Länge und Farbe eingebüßt, dafür an Breite ein Vielfaches gewonnen hat, aber: Hey, es kostet nur 5,99 €! Dann wirft man es halt weg.
Ein Lebensmodell. Aber nicht meines!

Das „Ja, ich will!“ sagt man nicht erst im Hochzeitskleid vor dem Traualtar, insbesondere auch nicht, weil man mal ein Hochzeitskleid vor dem Traualtar tragen will und weil so viele Menschen darauf warten, dass man es sagt, man sagt es nicht mit dem Wissen, dass es ja rechtliche und tatsächliche Möglichkeiten gibt, Ehen oder Beziehungen zu beenden, das sollte man zumindest nicht.

Ich persönlich sage mein „Ja, ich will!“ in dem Moment, in dem ich einen Menschen so kennengelernt habe, dass ich sagen kann „Ich will groß mit dir werden!“, wenn ich weiß, dass ich bereit bin, mit diesem Menschen zu leben, ihm Fehler zu verzeihen und auch Kompromisse einzugehen.

Deswegen lasse ich ältere Herren an der Kasse im Blumenladen vor und höre mir gerührt Lebensgeschichten an, die in dieser Generation häufig tatsächliche Liebesgeschichten sind.
Liebesgeschichten fern von reinem Disney-Kitsch, Liebesgeschichten, die Liebe so zeigen, wie sie ist: hoch und tief, fröhlich und beschwingt, auch schmerzlich und brutal, kompliziert und nervenaufreibend, beglückend und erfüllend, aber manchmal auch nahezu unerträglich romantisch!
So romantisch, dass man, würde man es in einem Buch lesen, sagen würde: „Na, da hat der Autor aber an dieser Stelle etwas übertrieben!“
Aber, genau, wie bei den schrägsten Jura-Lehrbuchfällen (Man liest sie und denkt sich: Welcher Jura-Freak hat sich denn eine solch unrealistische Fallkonstellation einfallen lassen? Typisch diese Juristen-Nerds!“ und darunter steht dann das Aktenzeichen der Originalentscheidung des BGH) passieren solche Geschichten eben doch.

Ich beobachtete aus dem Blumenladen heraus, wie der ältere Herr vorsichtig über die Straße ging und eine ältere Dame mit weißem Haar, die sich auf ihren Rollator stützte, mit einem Küsschen begrüßte und ihr die Blumen gab, für die sie sich zärtlich bedankte (und ich bildete mir auch über die Entfernung ein, ihre Augen strahlen gesehen zu haben!)

Danach habe ich übrigens die Lilien stehengelassen und einen Strauß weißer Rosen gekauft.
Für den Friedhof.
Und für mein Vertrauen, dass es sie gibt: Diese eine, echte, wahre, große, ewig fortdauernde Liebe!

Ich weiß was, das du nicht weißt!

30 Aug

„Mamamama, wir müssen noch Karottensaft kaufen, der hat soviel Vitamin B; weißt du eigentlich, dass Milchschnitte gar nicht gut für Kinder ist, da ist nämlich Alkohol drin, hat unsere Lehrerin gesagt; und Mama, guck mal, auf der Zeitschrift sind Sterne, meinst du, da kann man den großen Wagen sehen? Sterne heißen auf Englisch übrigens „Stars“. Mama, guck mal, Zigaretten, Rauchen schadet aber der Gesundheit(…)“

Das kleine Mädchen an der Kasse hinter mir beginnt langsam, mich zu nerven. Ich wollte doch nur, in Ruhe und beschaulich, zur abendlichen Entspannung, den Tag ausklingen lassen mit einem einfachen Einkauf eines Liter O-Saft, einer Packung Milchschnitte und einer Schachtel roter Gauloises.

Während ich nun meinen Einkauf aufs Band lege, höre ich hinter mir wieder dieses quäkende Stimmchen: „Mama, kann die Tante nicht Platz machen, ich will doch die Braeburn aufs Band legen…“
Hallo?!? Erstmal sind das einfach mal „Äpfel“, wenn man ca. 7 Jahre alt ist.
Und zweitens ist die „Tante“ keine Tante, sondern eine junge, attraktive Frau in ihren besten Jahren.

Ich muss mich sehr zusammenreißen, damit mir nicht das Wort „Klugscheißerkind“ entwischt.
Schiebe aber natürlich brav meine Waren ein Stückchen weiter nach vorne, damit dieses gottgegeben intelligente Geschöpf seine „Braeburn“ aufs Band legen kann.

Wutentbrannt erzähle ich kurz darauf meiner Mutter am Telefon die Geschichte, diesmal allerdings nicht ohne das Wort „Klugscheißerkind“.
Ich höre meine Mutter am anderen Ende der Leitung laut auflachen.
Auf meine etwas beleidigte Frage, was denn bitte daran so lustig sei, antwortet sie vergnügt: „Du warst doch ganz genauso!“

Vermutlich hat sie recht. Also, ich kann mich daran natürlich nicht mehr aktiv erinnern, die passive Erinnerung wird jedoch regelmäßig aufgefrischt durch die Erzählungen gewisser Anekdoten.
Immer wieder im Mittelpunkt stehen dabei folgende beiden Episoden.

1. Meine Uroma Anna, bei meiner Geburt bereits 83 Jahre alt, bezeichnete alle Vögel als „Amseln“. Meine Omi, bei der ich als kleines Kind sehr viel Zeit verbrachte, hatte mich jedoch namentlich hervorragend mit der Flora und Fauna vertraut gemacht.
Als nun meine Uroma eines Tages mit mir, ich war 3 Jahre alt, auf der Terasse saß, flog ein kleines Vögelchen heran und setzte sich vor unsere Füße. „Schau mal, Jani, eine Amsel!“ sagte Uroma Anna. „Aber Oma Anna“, antwortete ich entrüstet und verwirrt, „das ist doch eine Blaumeise!“

2. Ein Cousin meines Opas war Förster und Jäger. Mit 5 Jahren besuchte ich ihn und seine Frau gemeinsam mit meinen Großeltern in der Nähe von Frankfurt.
Im Wohnzimmer hing, über dem Sofa, ein Kopf von einem Wildschwein.
Fasziniert stand ich davor und begutachtete das Ungetüm.
Onkel Walter stellte sich neben mich und fragte: „Na, Tatjana, weißt du, was das ist? Das ist ein Wildschwein!“
Ich antwortete daraufhin: „Das ist klar! Aber, Onkel Walter, ist das denn ein Keiler, oder ist das eine Bache?“

(Jetzt kommen bestimmt wieder diese Lehrerkinderklischees. Diesbezüglich scheine ich ja auch einen Trend verpasst zu haben, wie mir kürzlich bei Thalia auffiel, als ich den Tisch mit der Thematik „Selbsthilfegruppe Kreatives Schreiben für Lehrerkinder“ entdeckte, auf dem die Lebensgeschichte diverser „Leidensgenossen“ zum Verkauf angeboten wurde, eine allerdings eigene Thematik, die, wie mir gerade auffällt, in den nächsten Wochen noch einen eigenen Blogeintrag verdient hat. Ich glaube nicht, dass der pädagogische Background meiner Eltern maßgeblich zu meiner Altklugheit beigetragen hat, genausowenig wie die Tatsache, dass meine Eltern Pädagogen sind, als solches meine Identitätsentwicklung massiv beeinträchtigt hat. Wären meine Eltern Anwälte, Ärzte, Maler oder Verwaltungsfachangestellte gewesen, hätte ich mich wohl nicht wesentlich anders entwickelt, aber, wie gesagt, das ist eine andere Geschichte und soll ein andermal erzählt werden.)

Jedenfalls: Ab meinem 7. Lebensjahr habe ich im Schnitt täglich ein Buch gelesen, mich mit 12 Jahren an Autoren wie Tucholsky und Dürrenmatt gewagt, wissbegierig alles aufgeschnappt und ebenso stolz mein Wissen weitervermittelt.

Ehrlich gesagt bin ich heute noch so.

Leider muss ich zugeben, im Zeitalter von Fernsehen und Internet trägt mein weitschweifender Romankonsum nicht unbedingt zu einem dekorativ zu verwendenden Allgemeinwissen bei, wie ich bei meinen regelmäßigen sang- und klanglosen Niederlagen beim Trivial Pursuit feststellen muss…
Hin und wieder kann ich beeindrucken.
Mit Autoren, Werken, die niemand kennt. In der Kategorie „Literatur“.
Was einem bei diesem Spiel allerdings auch nicht die erforderlichen Nubsies bringt, sofern einem das Grundwissen in allen anderen erforderlichen Kategorien, insbesondere der Kategorie „Geschichte“, gleichzusetzen mit „Hitler“, fehlt.

(Aber, liebe Spielerunde, aufgepasst: Ich hab da gestern so einen Roman gelesen… und mich via Wikipedia weitergebildet… sollten demnächst Fragen über Alma Mahler oder mit ihr sexuell in Verbindung zu bringende Männer (und es sind derer viele!) kommen, ihr werdet beeindruckt sein. Übrigens spielt auch das Dritte Reich eine Rolle, da wären wir dann wieder bei „Hitler…
Ich schweife ab. Auch das ist eine andere Geschichte, die ein andermal erzählt werden soll.)

Irgendwie sind mir diese altklugen Kinder ja auch lieber als die desinteressierten, lethargischen.
Kinder, die sich selbst mit Wissen vollballern und nicht andere in Computerspielen ab.
Kinder, die Lust haben, zu lernen, und Spaß, Gelerntes zu reproduzieren, sich eigene Gedanken zu machen, um die Welt irgendwann mit ihren eigenen Augen zu sehen.

Sollte ich also irgendwann mal ein Kind haben, und diese Kind steht mit mir an der Kasse, hinter einer jungen Frau, die beispielsweise eine Avocado und Kartoffeln kauft, und mein Kind sagt zu dieser Frau: „Tante, wusstest du eigentlich, dass die Avocado ein Obst ist, und kein Gemüse? Und Avocado heißt auf Englisch auch „Avocado“! Und Kartoffel heißt auf Englisch „Potatoe“. Und aus Kartoffeln macht man auch Pommes, die soll man aber nicht so oft essen, weil die so fettig sind, das sagt jedenfalls meine Lehrerin (…)“, dann werde ich da stehen, mit stolzgeschwellter Brust, lächeln, und denken:
„Ganz die Mama!“

„…darf’s ein bisschen mehr sein?“

31 Jul

Alles begann mit dieser Vorhangschiene.

Vermutlich in den 60ern von der Vormieterin, die 46 Jahre in dieser Wohnung lebte, angebracht, passten keine der gängigen Gardinenröllchen.

Nachdem ich in sämtlichen Einkaufscentern, Baumärkten und Möbelhäusern diverse 100er Packungen selbiger gekauft, die Verpackung aufgerissen und, nachdem ich sie ausprobiert hatte, diese in den überdimensional großen Karton mit der Aufschrift „Derzeit unnütze Dinge, die man aber möglicherweise irgendwann in seinem Leben nochmal gebrauchen kann“, verstaut hatte, gab Mama mir den Tipp, es doch mal beim örtlichen Raumausstatter zu versuchen. Der vermutlich damals in den 60ern auch die Schiene angebracht hatte.

Etwas unsicher betrat ich den dämmrigen Laden, in dem sich scheinbar wahllos mit Stoffen, Jalousien, Tapeten und Zubehör bepackte Regale befanden.

Hinter der Theke stand eine alte Dame, die sich perfekt in das Inventar eingliederte und die mich erfreut begrüßte; schließlich war ich auch einzige Kundin im Laden.

Mir war etwas unwohl bei der Überlegung, dass sie möglicherweise mutmaßen könnte, ich wolle die Komplettausstattung einer 250-qm-Villa beauftragen, und als sie mich fragte, ob sie mir weiterhelfen könne, antwortete ich daher etwas verschämt: „Äh, ja, hier, ich brauche so Nubsies für Vorhänge, dings… sowas hier!“ und holte etwas zögernd das einzig passende Gardinenröllchen hervor, das ich im weitreichenden Fundus meiner Mutter aufgetrieben hatte.

Hatte ich Enttäuschung in ihrem Gesicht erwartet, befürchtet, dass ich im Folgenden als Kundin zweiter Klasse bedient würde, so war diese Erwartung weit gefehlt.
Gleichbleibend freundlich wie emsig eilte sie zu einem Regal, in dem sich etwa 500 kleine Schublädchen mit verschiedenen Gardinenröllchen befanden, öffnete zielsicher 3-4 der Schubladen, verglich das Vorzeigenubsie mit den in ihrem Sortiment vorhandenen, wägte Für und Wider ab, um schließlich mit dem Schublädchen ihrer Wahl zu mir zurückzukehren.

„Junge Dame, diese hier müssten passen!“ meinte sie. „Und wenn nicht, kommen Sie einfach nochmal vorbei, dann tauschen wir sie um. Wie viele brauchen Sie denn?“
Ich hatte natürlich keine Ahnung, fragte: „Ja, äh, wieviele braucht man denn für so einen Vorhang?“.
Dies wurde mir auf fachmännischste Art und Weise, nicht ohne Erfragung der konkreten Stoffart, Breite und Gebrauchshäufigkeit des Vorhangs, erläutert.
Ich entschloss mich daher, 30 Stück zu kaufen, fragte vorsichtig: „Und was kosten die?“
„9 Cent pro Stück!“ sagte sie, „Aber wenn sie nicht passen oder Sie zu viele gekauft haben, können Sie sie wirklich gerne zurückbringen! Vielleicht ist dann auch mein Sohn da, der ist ja der Fachmann und kann Sie sicher besser beraten!“

Liebevoll wurden meine 30 Gardinenröllchen in eine weiße Papiertüte verpackt und mit zittriger Hand beschriftet: „30 Stück, 2,70 €“.
Ich bekam ferner eine handschriftliche Quittung von einem vergilbten Quittungsblock, bei dem ich fast glaube, der Aufdruck war in Sütterlin geschrieben.

Ich trat hinaus in die Sonne.
Und war gerührt.
Dass man als Kundin so behandelt wird.
Dass es solche Läden noch gibt.
Kundenfreundlichkeit und liebevolle Dienstleistungsbereitschaft für 2,70 €.
Und verurteilte mich zutiefst für meine Zara-, H&M-, IKEA-Mentalität.

Die Gardinenröllchen passen übrigens perfekt.
Aber ich denke, ich werde nächste Woche wieder welche kaufen.
Für meinen „Unnütze Dinge“-Karton.
Einfach nur, weil es so schön war.

Der Tag des toten Hamsters

30 Jul

Als ich 5 Jahre alt war, schnitt die Tochter einer Bekannten meiner Eltern meiner Puppe Annabelle im Frontbereich die Haare ab und stylte diese mittels Nivea-Creme zu einem flotten, modischen 80-er Jahre Stehpony.
Als ich, vor Wut und Verzweiflung heulend, mit dieser Puppe vor meinen Eltern stand, die mit den Eltern des Monsterkindes zum Abendessen in geselliger Runde zusammensaßen, wussten diese nicht, wie sie reagieren sollten.
So reagierten sie wie vermutlich die meisten Eltern mit „Ist doch nicht so schlimm!“ „Wir kaufen dir eine neue Puppe!“.
Was meine Ohnmacht und Hilflosigkeit noch größer werden ließ.
Der falsche Ansatz zum Trösten!

Das weiß ich mittlerweile auch.
Und trotzdem erwische ich mich dabei, in den verschiedensten Lebenssituationen gleichsam so zu „trösten“.

Wenn die beste Freundin verheult und verzweifelt vor einem steht, weil ihre Beziehung in die Brüche gegangen ist, hat wohl jeder schon einmal den Satz verwendet: „Sei doch froh, dass du ihn los bist! Andere Mütter haben auch schöne Söhne!“.
Den Bekannten, der einen anruft, um über Jobfrust und Ekelkollegen zu klagen, zu beglücken mit den Worten: „Jetzt nimm erstmal ein schönes heißes Bad und mach dir eine leckere Flasche Wein auf, dann wird das schon alles wieder!“.

Und jeder ist auch selbst sicherlich schon einmal in einer vergleichbaren Situation gewesen und weiß, dass ein heißes Bad oder die Aussicht auf das breite Spektrum attraktiver Single-Herren und Damen in solchen Situationen nicht merklich die Stimmung heben.

Warum aber tun wir uns so schwer damit, zu trösten?
Und Trost: Was ist das überhaupt?
Wikipedia sagt: „Das Wort Trost hängt etymologisch mit dem indogermanischen Wortstamm treu zusammen und bedeutet eigentlich (innere) Festigkeit. Das griechische Wort für „Trost“ bedeutet auch „Ermutigung“.“
Was bedarf es aber für diese innere Festigkeit?
Und Ermutigung?

Man stelle sich folgende Situation vor: Man ist 5 Jahre alt und hat einen Hamster namens „Rocky“. Oder „Schnuffi“. Oder wie auch immer man Hamster nennt, wenn man 5 Jahre alt ist. (Oder nennt man die heutzutage „Sido“, „Bushido“ oder „Justin“?)
Dieser Hamster stirbt. (Meine Blogeinträge sind ja schon immer sehr traurig, aber ich benötige diesen kurzzeitigen Stimmungsumschwung für die Verdeutlichung meiner Gedankengänge).
Man geht also zu Mama und Papa, in Tränen aufgelöst, und heult: „Mein Hamster ist tot!!!“
Variante a) Mama und Papa sagen: „Jetzt stell dich mal nicht so an!“
Variante b) Mama und Papa sagen: „Ist doch nicht so schlimm, wir kaufen einen neuen Hamster!“
Variante c) Mama und Papa fragen: „Was hast du denn da falsch gemacht? Hast du ihn wieder nicht ordentlich gefüttert? Selbst schuld!“
Variante d) Mama und Papa nehmen einen in den Arm und sagen: „Das ist ja ganz schrecklich, da können wir verstehen, dass du ganz traurig bist! Wir sind auch ganz traurig! Aber wir können dem Hamster eine schöne Beerdigung gestalten, er bekommt ein Grab mit Grabstein, im Garten, unter dem Johannisbeerstrauch!“

So. Mit welcher Variante geht es dem Kind wohl am besten?

Um trösten zu können, muss man die Ohnmacht des Kindes aushalten. Das Unglück und den Schmerz anerkennen!

Bei Erwachsenen ist das genauso.
Wir wollen auch nicht hören, dass wir den Hamster (=Beziehung) getötet haben. Wollen keinen neuen Hamster (=Job).

Wenn wir unglücklich sind, wollen wir jemanden, der unser Leid anerkennt, versteht, mitfühlt und mitleidet, der uns im Schmerz beisteht!
Auch, wenn dieser Schmerz objektiv vielleicht nicht so schlimm ist, wie wir ihn subjektiv empfinden.

Daran werde ich denken.
Wenn die Bekannte von mir sich (endlich) von diesem Möchtegern-Mister-Wichtig trennt.
Wenn die Schwester die Klausur nur mit 1,3 anstelle von 1,0 besteht.
Wenn der Lieblingsverein meines Freundes aus der BuLi absteigt.
Ich werde mittrauern. Mitleiden. Mitfühlen. Und damit zur Ermutigung und inneren Festigung beitragen.
In Gedenken an Annabelle.

Friss oder stirb!

26 Jul

Ich stehe im Lidl an der Kasse.
Es ist 30 Grad Außentemperatur.
Es riecht etwas unangenehm.
Scheint von dem Typen vor mir zu kommen. Ende 40, ungepflegtes Äußeres (ich würde gerne schreiben, dass er eine verwaschene Jogginghose und ein fleckiges Feinrippunterhemd trug, um das Klischee stilistisch auszuarbeiten, aber das wäre gelogen, er trug eine Bermuda und ein „Bier-formte-diesen-Körper“-Shirt).
Naja, denke ich, kann passieren bei dem Wetter, und das kennt man ja selbst, dass nicht jedes Deo, wie es verspricht, 24 Stunden antitranspirierend wirkt, und das Shirt könnte ja auch ein Versehen sein, vielleicht wollte er das Licht im Schlafzimmer nicht anmachen, um seine Frau nicht zu wecken, und hat sich beim Anziehen daher versehentlich dieses Shirt gegriffen, das eigentlich nur ein von ihm selbst zutiefst verachteter und verabscheuter Gag seiner Jungs zum 40. Geburtstag war… also, das Shirt sieht zwar schon eher so abgenutzt aus, dass die Assoziation Lieblings-T-Shirt aufkommt, aber das kann ja auch wieder Gründe haben und ich möchte da auch nichts unterstellen…

Ich wende meinen Blick gedankenverloren ab und schaue auf das Kassenband. Vor meinem Liter Bio-Vollmilch und dem probiotischen Joghurt liegen, säuberlich durch einen Trennstab getrennt, diverse Flaschen Bier und Cola, zwei Flaschen Korn, eine Stange Zigaretten, TK-Pommes, Dosenerbsensuppe mit Bauchspeck und eine Packung Wassereis.
Hm, denke ich, gesund! Dann sage ich mir selbst: Ach, sei doch nicht wieder so wertend, vielleicht ist das ja auch der Alkoholeinkauf für die nächsten 6 Monate, das Essen für eine alte kranke Nachbarin, die sich nur noch zur Mikrowelle und zurück bewegen kann und er fährt gleich noch zum Markt und kauft sich frisches Gemüse und politisch korrektes Fleisch, um sich ein Mittagsmahl zu zaubern, und selbst, wenn nicht, er ist ja erwachsen und es ist sein Leben und es geht dich mal überhaupt gar nichts an, Madame, was der da macht. Und du kannst es vor allem eh nicht ändern…

Plötzlich drängelt sich eine kleine Person an mir vorbei.
Ein kleines Mädchen, etwa 8 Jahre alt, mit einem etwas zu dicken Kinderbauch, über dem sich das T-Shirt spannt und den Bauchnabel freilegt, das Gesicht etwas zu blass und zu teigig für das zarte Alter, die Haare etwas zu fettig, das Gesichtchen etwas zu unglücklich dafür, dass sie maximal 8 Jahre alt und das Leben doch in diesem Alter eigentlich noch weitestgehend sorgenfrei ist-
„Papa?!?“ fragt sie den Typen vor mir bittend, „Da vorne gibt es Märchenbücher! Darf ich so eines haben?“
„Nein!“ ranzt der Vater genervt und aggressiv, „Für sowas haben wir kein Geld!“

Ich drehe mich um, sehe den Aktionstisch mit den Märchenbüchern. Sie kosten 2,99 € pro Stück.
Ich blicke auf die Flaschen Korn.
Sie kosten 3,99 € pro Stück. Die Zigarettenstange. Sie kostet 39,50 €.
Und ich spüre diese Wut in mir hochkrabbeln.
Und muss mich wieder zurückhalten, etwas zu sagen.
Also, stelle mir besser gesagt die Frage: Sagst du jetzt was? Machst du deiner Wut Luft? Bringt das was? Und wenn ja, wem? Den Eltern, die ich kritisiere? Dem Kind, dem sie die Zukunft verbauen? Mir, weil ich es rauslassen kann?

Der Ty bezahlt.
Reißt die Packung mit dem Wassereis auf, drückt seiner Tochter eines in die Hand und brummt: „Hier, nimm und iss.“ Das Kugelbauchkind nimmt und isst.
Ich denke: „Friss oder stirb!“.
Habe echt sowas wie Tränen in den Augen.
Atme dreimal tief durch.
Bezahle auch.
Und gehe.
Wortlos.
Sprachlos.

Einmal habe ich in einer ähnlichen Situation etwas gesagt.
Eine Mutter, das weibliche Pendant zu dem oben beschriebenen Herrn, ließ ihren offensichtlich geistig zurückgeblieben, aber herzerfrischend aufmerksamen, fleißigen, hilfsbereiten und goldigen Sohn 10 Packungen Tabak und 10 Packungen Blättchen abzählen.
Auf dem Band lagen außerdem Wodka und TK-Königsberger Klopse.
Auf meine Frage, ob sie die Vorgehensweise, ihren Jungen mit dem Tabakeinkauf zu beauftragen, für pädagogisch wertvoll erachtete, antwortete sie mir verblüfft und empört: „Aber seine Mathelehrerin hat mir doch gesagt, ich soll mit ihm zählen üben!“

Mir fehlen immer noch die Worte.