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„…darf’s ein bisschen mehr sein?“

31 Jul

Alles begann mit dieser Vorhangschiene.

Vermutlich in den 60ern von der Vormieterin, die 46 Jahre in dieser Wohnung lebte, angebracht, passten keine der gängigen Gardinenröllchen.

Nachdem ich in sämtlichen Einkaufscentern, Baumärkten und Möbelhäusern diverse 100er Packungen selbiger gekauft, die Verpackung aufgerissen und, nachdem ich sie ausprobiert hatte, diese in den überdimensional großen Karton mit der Aufschrift „Derzeit unnütze Dinge, die man aber möglicherweise irgendwann in seinem Leben nochmal gebrauchen kann“, verstaut hatte, gab Mama mir den Tipp, es doch mal beim örtlichen Raumausstatter zu versuchen. Der vermutlich damals in den 60ern auch die Schiene angebracht hatte.

Etwas unsicher betrat ich den dämmrigen Laden, in dem sich scheinbar wahllos mit Stoffen, Jalousien, Tapeten und Zubehör bepackte Regale befanden.

Hinter der Theke stand eine alte Dame, die sich perfekt in das Inventar eingliederte und die mich erfreut begrüßte; schließlich war ich auch einzige Kundin im Laden.

Mir war etwas unwohl bei der Überlegung, dass sie möglicherweise mutmaßen könnte, ich wolle die Komplettausstattung einer 250-qm-Villa beauftragen, und als sie mich fragte, ob sie mir weiterhelfen könne, antwortete ich daher etwas verschämt: „Äh, ja, hier, ich brauche so Nubsies für Vorhänge, dings… sowas hier!“ und holte etwas zögernd das einzig passende Gardinenröllchen hervor, das ich im weitreichenden Fundus meiner Mutter aufgetrieben hatte.

Hatte ich Enttäuschung in ihrem Gesicht erwartet, befürchtet, dass ich im Folgenden als Kundin zweiter Klasse bedient würde, so war diese Erwartung weit gefehlt.
Gleichbleibend freundlich wie emsig eilte sie zu einem Regal, in dem sich etwa 500 kleine Schublädchen mit verschiedenen Gardinenröllchen befanden, öffnete zielsicher 3-4 der Schubladen, verglich das Vorzeigenubsie mit den in ihrem Sortiment vorhandenen, wägte Für und Wider ab, um schließlich mit dem Schublädchen ihrer Wahl zu mir zurückzukehren.

„Junge Dame, diese hier müssten passen!“ meinte sie. „Und wenn nicht, kommen Sie einfach nochmal vorbei, dann tauschen wir sie um. Wie viele brauchen Sie denn?“
Ich hatte natürlich keine Ahnung, fragte: „Ja, äh, wieviele braucht man denn für so einen Vorhang?“.
Dies wurde mir auf fachmännischste Art und Weise, nicht ohne Erfragung der konkreten Stoffart, Breite und Gebrauchshäufigkeit des Vorhangs, erläutert.
Ich entschloss mich daher, 30 Stück zu kaufen, fragte vorsichtig: „Und was kosten die?“
„9 Cent pro Stück!“ sagte sie, „Aber wenn sie nicht passen oder Sie zu viele gekauft haben, können Sie sie wirklich gerne zurückbringen! Vielleicht ist dann auch mein Sohn da, der ist ja der Fachmann und kann Sie sicher besser beraten!“

Liebevoll wurden meine 30 Gardinenröllchen in eine weiße Papiertüte verpackt und mit zittriger Hand beschriftet: „30 Stück, 2,70 €“.
Ich bekam ferner eine handschriftliche Quittung von einem vergilbten Quittungsblock, bei dem ich fast glaube, der Aufdruck war in Sütterlin geschrieben.

Ich trat hinaus in die Sonne.
Und war gerührt.
Dass man als Kundin so behandelt wird.
Dass es solche Läden noch gibt.
Kundenfreundlichkeit und liebevolle Dienstleistungsbereitschaft für 2,70 €.
Und verurteilte mich zutiefst für meine Zara-, H&M-, IKEA-Mentalität.

Die Gardinenröllchen passen übrigens perfekt.
Aber ich denke, ich werde nächste Woche wieder welche kaufen.
Für meinen „Unnütze Dinge“-Karton.
Einfach nur, weil es so schön war.

Mein Vater ließ mich langsam in der Auffahrt fahren

16 Jul

Wir haben ein Problem.
Das Bett steht falschherum.
Also, an der falschen Wand.
Oder wie auch immer.

Fakt ist: Egal, wo mein Freund und ich bis jetzt gemeinsam geschlafen haben, er schlief immer rechts an der Wand. Und ich linksaußen.
In meiner neuen Wohnung geht das aufgrund der örtlichen Gegebenheiten nicht. Entweder muss ich rechtsaußen schlafen, oder linksinnen.
Traumatisch für meine Autistenseele.

Mal ehrlich: Unvergessen Dustin Hoffman als „Rain Man“, der uns rührte, bewegte, belustigte…
Sehen wir Menschen in der Stadt, die sich bemühen, nicht auf Linien zu treten, beobachten wir dies ein bisschen amüsiert, ein bisschen mitleidig- aber möglicherweise auch irgendwie, tief in unserem Inneren, ein bisschen verständnisvoll.
Denn: Auch wir sind Menschen und als solche Liebhaber fester Gewohnheiten!
Das wirft die Frage auf: Steckt nicht in jedem von uns ein kleiner Rain Man?
(Die Leser, die die Überschrift dieses Artikels bis zum Ende nicht verstehen, bitte ich, sich den Film anzuschauen… :))

Ich stehe zu meiner autistischen Seite!
Gibt es morgens bei Bäcker meines Vertrauens keine Kürbiskernbrötchen, verzichte ich auf mein Frühstück („Dann will ich GAR NICHTS!“) und habe den Rest des Tages schlechte Laune.

Ist mein Parkplatz belegt (also, nicht, dass einen solchen angemietet hätte, aber ich parke halt immer dort!) verliere ich plötzlich jeglichen Orientierungssinn und Menschenverstand, weiß nicht mehr, wo ich bin, in meinem Kopf macht es „blingblingbling“ und ich denke jedesmal kurz darüber nach, einfach weiter planlos durch die Gegend zu fahren, bis MEIN Parkplatz wieder frei ist).

Ich überquere bei gewohnten Wegen an festen Stellen die Straße.
Ist dort eine Baustelle, habe ich ein Problem. Dann könnte es passieren, dass ich, wie ein vom Scheinwerferlicht geblendetes Reh, verharre, unfähig, einen anderen Weg zu wählen- es gibt einfach keinen!
Was bei den Baustellenzeiten in Bielefeld durchaus dramatische Folgen haben kann. (Ich erinnere an eine mehrmonatige Baustelle auf der Arndtstraße, die auch noch die Straßenseite wechselte.)
Dass ich nicht unterhalb des Baustellenschildes nächtigte, verdanke ich meinem guten und fürsorglichen sozialen Umfeld.

Warum neigt der Mensch dazu, bestimmte Lebenssituationen möglichst immer gleich zu meistern? Gerade, wenn es um Alltagssituationen geht?

Solange das, was man in beständiger Regelmäßigkeit tut, auch das ist, was einen glücklich macht, ist das ja durchaus auch okay, sogar gut.
Aber: warum hat der Mensch sich dazu entschlossen: Lieber das bekannte Unglück als das unbekannte Glück?

So verhalten wir uns auch in den wirklich wichtigen Situationen des Lebens quasi-autistisch: Wir wählen den Weg, den wir kennen. Auch wenn er uns vorher nie glücklich gemacht hat und dies vermutlich auch nie tun wird.
Aber wir fühlen uns wohler damit. Weil wir das Unglück, das uns ereilt, kennen. Und das Höchstmaß absehen können!

Egal, ob Beziehung, Job oder sonstiges: Hauptsache, altbekannt! Rest egal!

Die meisten, die ich kenne, die es gewagt haben, mit alten Mustern zu brechen, sind glücklicher, als zuvor. Aber der Mut fehlt uns oft!

Wenn ich es recht überlege: Im letzten Jahr habe ich mit altbekannten Mustern gebrochen. Mit Erfolg.
Vielleicht sollte ich das zu meinem neuen Muster machen?

Ok, Freunde. Ich schlafe heute rechtsaußen.

(Das wird sowieso nicht lange notwendig sein, meine Lebensdauer ist fortan klar begrenzt.
Mein ALDI hat nämlich umgebaut. Andere Wege, andere Regale.
Dort kaufte ich immer Essen und Getränke.
Die Folgen dürften zu erahnen sein.)

Die 10 emotionalsten Umzugsmomente

5 Jul

1. Die letzte Zehntelsekunde beim Heruntersteigen von der Trittleiter,
in der ich den darunter stehenden geöffneten Farbeimer (Farbton
„Schilf“) entdeckte und realisierte, dass es keinen Weg zurück mehr
gibt.

2. Nachdem ich 6 Steckdosen mittels eines nicht wirklich dazu
gedachten und geeigneten Werkzeuges anmontiert hatte und die Sicherung
wieder einschalten wollte, die Feststellung, dass ich vergessen hatte,
selbige auszuschalten.

3. Mit einem tetrisrekordverdächtig bepackten Polo durchgeführte
Vollbremsung bei Tempo 80 auf der B 68.

4. Der fatale Satz von mir, als ich nach Entrümpelung des Kellers 3
Umzugskartons in die Recyclingbörse gebracht hatte: „Och, Mama, lass
uns doch einmal kurz durchgehen und gucken- ich will auch gar nichts
kaufen…“

5. Als bei einer Außentemperatur von 30 Grad Celsius und einer zu
beziehenden Wohnung im 4. Stock die Billyregale nicht in den Fahrstuhl
passten.

6. Der Blick meiner neuen Nachbarin, als ich, etwa 15 lose in meinem
Auto herumfliegende Bücher in einem Einkaufskorb nach oben
transportierend, auf ihre Aussage: „Sie haben ja ganz schön viele
Bücher!“, dies für einen Scherz haltend mit einem Lachen antwortete:
„Ja, die anderen 2.000 sind aber auch vernünftig verpackt!“

7. Die (bereits beschriebene) Entdeckung eines Marienkäfernestes in
meinem Fensterkasten bei Putzen des geöffneten Fensters im 4. Stock.

8. Das erste Duschen in der neuen Wohnung, bei dem ich lernte, dass,
wenn mein Papa sagt: „Du hast noch kein warmes Wasser.“, er damit
meint „Du hast Wasser, das ungefähr doppelt so kalt ist wie das Wasser
der Nordsee im Januar!“

9. Der Brocken Milch in meinem Kaffee nach der ersten Nacht in der
neuen Wohnung, der mich wohl auf ewig daran erinnern wird, dass ich
bei meinem nächsten Umzug als Allererstes den Kühlschrank
transportieren werde.

10. Als mein Mann mit einem guten Rotwein vor meiner Tür stand, um mit
mir auf die Wohnung anzustoßen, ich die Flasche entgegennahm mit den
Worten: “…ich finde meine Gläser nicht. Trinkst du notfalls auch aus
einer Tasse?“

Ab in den Süden!

27 Jun

Jahrelang habe ich im Bielefelder Westen gewohnt. Zwischen Werbeagenturen und Selfmade-Läden, Bio-Bunkern und Wannabe-Berlin-Bars, Stricksockengitarrenspielern und poetryslammenden Nerdbrillenträgern.
In einem Altbau mit 3,20 m Deckenhöhe und Originaltüren natürlich.
Einrichtung:  Bisschen Jugendstil, bisschen 60er, bisschen Ikea.
Identität West-Bewohner.

Ich habe genug.
Back to the roots.
Ich ziehe nach Sennestadt. Meiner ursprünglichen Heimat.
Dem südlichsten Vorort von Bielefeld.
Verrufen als sozialer Brennpunkt.
Was der Wedding für Berlin, das ist Sennestadt für Bielefeld.

Aber, und das kann ich, als Quasi-Zweitwohnsitz-Berlinerin, mit Fug und Recht behaupten: Der Wedding ist en vogue.
Die Möchtegern-Hipster ziehen nach Kreuzberg, Friedrichshain- die echten Hipster bevölkern den Wedding. Berlin hat es erkannt!

In Bielefeld bin ich meiner Zeit voraus.
(Wunschdenken: aus. Realität: an.)

Damals, in den 60ern, als mein eher wohlhabender Großvater mit Familie nach Sennestadt zog, war Sennestadt DAS Kreuzberg.
Die Stadt, die neu entstanden war, vom Architekten Reichow auf dem Reißbrett geplant. Vorbildfunktion, daher in allen namhaften Atlanten aufgeführt.
Dort wohnte man.
Außerhalb der Stadt, im Grünen, einen Steinwurf vom Teutoburger Wald entfernt.
Reich, weil viele Gewerbesteuereinnahmen.

Der Anfang vom Untergang folgte 1973: Die Eingemeindung.
Sennestadt protestierte, zog vor das Verfassungsgericht: ohne Erfolg. Bielefeld nahm uns unsere (man beachte die bereits erfolgte Identifikation meinerseits mit der alten und neuen Heimat, die dieses Possessivpronomen stilistisch ausdrückt) Souveränität- und unser Geld!

Langsam ging es bergab mit Sennestadt.
Ich weise daraufhin, dass wir (!) seit Jahrzehnten um einen Stadtbahnanschluss kämpfen!

Jedenfalls, lange vor der Eingemeindung empfahl vermutlich irgendein Anlageberater meinem Großvater die Anlage in Immobilien.
Vorzugsweise Sozialbau-Eigentumswohnungen.
Ich mutmaße, dass es sich dabei um den gleichen Anlageberater handelte, der meinem Großvater empfahl, sein Vermögen in Orientteppiche zu investieren.
Diese Teppiche, die sich nach Antritt der Erbschaft bereits im Auto befanden, um in die Recyclingbörse transportiert zu werden, wurden von meiner Familie demütig wieder dem Kofferraum entnommen, da wir (gottseidank oder leider?) die Quittungen mit dem Einkaufspreis vor der Entsorgung in einem der zahlreichen Aktenordner meiner Großeltern fanden, und feststellen mussten, dass sich der Neuwert des Golfes, in dem sie sich zum Abtransport befanden, durch jeden einzelnen der Teppiche nahezu verdoppelte.

Aber, lieber Opa, liebe Oma, eines habt ihr gut angelegt: eure Liebe zu uns! (Achtung: all diejenigen, die auch ernstgemeinter Rührseligkeit nichts abgewinnen können und sie schlechthin als Kitsch ansehen, bitte ich nun, aufzuhören, zu lesen, und sich damit abzufinden, dass dieser Blogeintrag für sie ein tendenziell jähes Ende nimmt!)

Wirtschaftskrisen, Eingemeindungen, Inflationen können den Erinnerungen, die ich an euch habe, nichts anhaben! Die bleiben! Und die bleiben das Beste, was bleiben kann! Auch (oder gerade) in Sennestadt! ♥

Daher: Sennestadt ist besser, als sein Ruf!
Überzeugt euch! Kommt mich besuchen! Ich werde euch mit einem Wodka vom Russenladen gegenüber empfangen!
Mit Nerd-Brille. In meiner 60-er-Jahre-Sozialbauwohnung. Auf einem 20.000,- DM Orientteppich. Der die Wohnung erst so richtig gemütlich macht.

Tod am Hochhaus

25 Jun

Sennestadt. 15:30 Uhr nachmittags. Am Fuße eines sechsetagigen 60-er-Jahre-Hochhauses liegt eine 30jährige Frau, Juristin, blond, tot.

In ihren Händen hält sie eine Sprühflasche und einen Lappen.

In ihren geöffneten starren Augen steht der blanke Horror.

Im 4. Stock ist ein Fenster offen.

Was ist passiert? (…und es ist NICHT so einfach, wie ihr denkt!)

Lösung:

Die Frau wollte im Rahmen ihres Umzugs die Fenster putzen.

Allerdings litt sie unter einer ausgeprägten Marienkäferphobie.

Während sie auf der Trittleiter stand und ihr geöffnetes Wohnzimmerfenster in der 4. Etage mit Sidolin einsprühte, stieß sie auf ein Marienkäfernest in ihrem Fensterkasten.

Vor Panik und Entsetzen wollte sie von der Trittleiter springen, geriet ins Straucheln und stürzte in den Tod.

(In Anbetracht der Tatsache, dass sie aufgrund des tragischen Todes das Nest nicht selbst beseitigen musste, verliert diese im Grunde zwar eher dramatische und unerfreuliche Geschichte meiner Meinung nach doch ein bisschen vom schalen Nachgeschmack, der sonst verbliebe.)