Alles begann mit dieser Vorhangschiene.
Vermutlich in den 60ern von der Vormieterin, die 46 Jahre in dieser Wohnung lebte, angebracht, passten keine der gängigen Gardinenröllchen.
Nachdem ich in sämtlichen Einkaufscentern, Baumärkten und Möbelhäusern diverse 100er Packungen selbiger gekauft, die Verpackung aufgerissen und, nachdem ich sie ausprobiert hatte, diese in den überdimensional großen Karton mit der Aufschrift „Derzeit unnütze Dinge, die man aber möglicherweise irgendwann in seinem Leben nochmal gebrauchen kann“, verstaut hatte, gab Mama mir den Tipp, es doch mal beim örtlichen Raumausstatter zu versuchen. Der vermutlich damals in den 60ern auch die Schiene angebracht hatte.
Etwas unsicher betrat ich den dämmrigen Laden, in dem sich scheinbar wahllos mit Stoffen, Jalousien, Tapeten und Zubehör bepackte Regale befanden.
Hinter der Theke stand eine alte Dame, die sich perfekt in das Inventar eingliederte und die mich erfreut begrüßte; schließlich war ich auch einzige Kundin im Laden.
Mir war etwas unwohl bei der Überlegung, dass sie möglicherweise mutmaßen könnte, ich wolle die Komplettausstattung einer 250-qm-Villa beauftragen, und als sie mich fragte, ob sie mir weiterhelfen könne, antwortete ich daher etwas verschämt: „Äh, ja, hier, ich brauche so Nubsies für Vorhänge, dings… sowas hier!“ und holte etwas zögernd das einzig passende Gardinenröllchen hervor, das ich im weitreichenden Fundus meiner Mutter aufgetrieben hatte.
Hatte ich Enttäuschung in ihrem Gesicht erwartet, befürchtet, dass ich im Folgenden als Kundin zweiter Klasse bedient würde, so war diese Erwartung weit gefehlt.
Gleichbleibend freundlich wie emsig eilte sie zu einem Regal, in dem sich etwa 500 kleine Schublädchen mit verschiedenen Gardinenröllchen befanden, öffnete zielsicher 3-4 der Schubladen, verglich das Vorzeigenubsie mit den in ihrem Sortiment vorhandenen, wägte Für und Wider ab, um schließlich mit dem Schublädchen ihrer Wahl zu mir zurückzukehren.
„Junge Dame, diese hier müssten passen!“ meinte sie. „Und wenn nicht, kommen Sie einfach nochmal vorbei, dann tauschen wir sie um. Wie viele brauchen Sie denn?“
Ich hatte natürlich keine Ahnung, fragte: „Ja, äh, wieviele braucht man denn für so einen Vorhang?“.
Dies wurde mir auf fachmännischste Art und Weise, nicht ohne Erfragung der konkreten Stoffart, Breite und Gebrauchshäufigkeit des Vorhangs, erläutert.
Ich entschloss mich daher, 30 Stück zu kaufen, fragte vorsichtig: „Und was kosten die?“
„9 Cent pro Stück!“ sagte sie, „Aber wenn sie nicht passen oder Sie zu viele gekauft haben, können Sie sie wirklich gerne zurückbringen! Vielleicht ist dann auch mein Sohn da, der ist ja der Fachmann und kann Sie sicher besser beraten!“
Liebevoll wurden meine 30 Gardinenröllchen in eine weiße Papiertüte verpackt und mit zittriger Hand beschriftet: „30 Stück, 2,70 €“.
Ich bekam ferner eine handschriftliche Quittung von einem vergilbten Quittungsblock, bei dem ich fast glaube, der Aufdruck war in Sütterlin geschrieben.
Ich trat hinaus in die Sonne.
Und war gerührt.
Dass man als Kundin so behandelt wird.
Dass es solche Läden noch gibt.
Kundenfreundlichkeit und liebevolle Dienstleistungsbereitschaft für 2,70 €.
Und verurteilte mich zutiefst für meine Zara-, H&M-, IKEA-Mentalität.
Die Gardinenröllchen passen übrigens perfekt.
Aber ich denke, ich werde nächste Woche wieder welche kaufen.
Für meinen „Unnütze Dinge“-Karton.
Einfach nur, weil es so schön war.